This text
was written on March 9th, 2020, by Dr. Margarita del Val, Ph.D., former
Alexander-von-Humboldt Stiftung fellow, who researched in Germany in Virology
and Immunology, and is now a Senior Scientist in Madrid, Spain, at CBMSO,
Centro de Biología Molecular Severo Ochoa (CSIC-UAM). On that day, the coronavirus case count in Spain was 1,204 with 29 deaths. As of March 16th, 2020, the number of casualties in Spain has increased to 330. A mere week later, 11 times as many.
Hallo,
Ich bin Virologin und Immunologin, aber keine Epidemiologin.
Meiner Meinung nach liegt der Schlüssel zum Verständnis dessen, was gerade
mit dem Coronavirus geschieht, darin: Wir müssen von der Ebene des Individuums
auf die Ebene der Epidemie übergehen und erkennen, dass es die Gesellschaft
ist, die darunter leidet.
Bisher vermisse ich Erklärungen, warum so ungewöhnliche
Eindämmungsmaßnahmen getroffen werden. Daher möchte ich versuchen,
Erkärungsansätze zu liefern. In Kürze für diejenigen, die nicht mehr lesen
wollen: Diese Maßnahmen werden nicht nur zum individuellen Schutz eines jeden
von uns ergriffen, sondern vor allem zum Schutz der Schwachen und derer, die
uns heilen. Letzteres bedeutet, die Mitarbeiter des Gesundheitswesens davor zu
bewahren, massiv überlastet und selbst massenhaft krank zu werden. Wir müssen
sie schützen, damit sie uns schützen können.
Meiner Meinung nach muss man dazu einige Punkte verstehen:
Zuächst scheint die Sterblichkeitsrate etwas höher zu sein als bei der
Grippe. Zugleich ist aber die am meisten gefährdete Patientengruppe ähnlich.
Von der Grippe zu sprechen, ist daher nicht sehr weit von dem entfernt, was
Covid-19 ist. (Auch die Grippe ist übrigens gar nicht so banal, wie wir oft denken.
Es wird geschätzt, dass in den letzten beiden Wintern zwischen 6.300 und 15.000
Todesfälle auf die Grippe in Spanien zurückzuführen sind. Das ist viel mehr als
durch Verkehrsunfälle.) Besondere Aufmerksamkeit müssen wir also den Menschen
mit Vorerkrankungen und älteren Menschen widmen: Die Sterblichkeit durch
Coronaviren in China verdoppelt sich ungefähr mit jedem Jahrzehnt und erreicht
14,8% bei den über 80-Jährigen. Wenn man nun also auf das eigene Alter
herunterrechnet, besteht auf individueller Ebene somit wenig Grund, sich
übermäßig zu sorgen. Wenn wir Symptome haben, wegen derer wir auch bei einer
Grippe nicht zum Arzt oder nicht einmal zum Telefon gehen würden, wenn wir
nicht in Kontakt zu einer infizierten Person oder an gefährdeten Orte unterwegs
waren, müssen wir nur die Anweisungen des Gesundheitsministeriums lesen, ruhig
bleiben und vermeiden, aus Angst medizinische Zentren durch zu großen Ansturm
zu überlasten.
ABER (und ich möchte nicht beunruhigen): auf kollektiver Ebene gibt es
wichtige Unterschiede, die diese Vorsicht, die strikten Quarantäneregelungen,
die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen rechtfertigen. Denn das ist der
eigentliche Inhalt des Wortes Epidemie: dass die Auswirkungen auf kollektiver
Ebene, auf gesellschaftlicher Ebene, und nicht nur auf individueller Ebene
stattfinden. Und diese wichtigen Unterschiede sind die folgenden:
Es handelt sich um ein neues Virus, und die Wissenschaft weiß nur sehr
wenig darüber. Deshalb kann sie nur sehr wenig vorhersagen. Wir Wissenschaftler
arbeiten hart und versuchen, so viel wie möglich zu verstehen. Bisher haben wir
nichtsdestotrotz weder ein Antivirenmittel noch einen Impfstoff. Im Gegensatz
zur Grippe, für die wir Medikamente und Impfstoffe haben (die natürlich noch
besser werden können, aber immerhin haben wir sie).
Wir wissen nicht einmal, ob es der Wissenschaft gelingen wird, Impfstoffe
gegen Corona herzustellen; es ist möglich, aber solange wir sie noch nicht
haben, wissen wir es nicht. Wir haben Impfstoffe gegen einige wenige
Infektionskrankheiten, aber vergessen wir nicht, dass es Infektionen gibt, die
trotz enormer weltweiter wissenschaftlicher Anstrengungen resistent sind, wie
HIV oder Dengue-Fieber, Malaria oder Tuberkulose und viele andere.
Abgesehen von dem fehlenden Impfschutz ist das Coronavirus auch viel
ansteckender als die Grippe -vielleicht weil wir in der Vergangenheit eine
gewisse Immunität gegen der Grippe entwickelt hatten - während wir gegenüber
dem neuen Coroavirus völlig naiv sind, quasi unbewaffnet. Unser Immunsystem
kennt das Virus bisher nicht und weiß daher noch gar nicht, wogegen es sich da
wie schützen muss. Und dieser Unterschied wird mit jeder weiteren Ansteckung
größer, da jede weitere Ansteckung zu noch mehr Ansteckungen führt.
Etwa 1% der Bevölkerung erkrankt jedes Jahr während der Wintersaison an der
Grippe (d.h. mit Symptomen stark genug, um zum Arzt zu gehen). Das bedeutet,
dass der einzelne von uns bestenfalls gar nicht weiß, wie sich eine Grippe
anfühlt - denn statistisch bekommen wir nur eine in 100 Jahren (Bitte
verwechseln Sie eine echte Influenza-Grippe nicht mit anderen, leichteren
Infektionen mit ähnlichen Symptomen, wie z.B. einer Erkältung mit Schnupfen).
Weiterhin wird geschätzt, dass in Spanien jedes Jahr zwischen 30.000 und 50.000
Grippepatienten ins Krankenhaus eingeliefert werden, was einem Maximum von 0,1%
der Bevölkerung entspricht. Diese 1% der jährlich mit der Grippe infizierten
Patienten im Winter sind nun jedoch das, was das Gesundheitssystem gerade noch
tragen kann. Unser Gesundheitssystem erreicht dabei seine maximale
Sättigungsgrenze.
Beim Coronavirus hingegen kann theoretisch ein beträchtlicher Prozentsatz
der Bevölkerung innerhalb von wenigen Monaten ohne Quarantäne oder Barrieren
infiziert werden. Nun, nur ein Bruchteil der Infizierten wird Symptome haben -
aber dieser Anteil der tatsächlich Kranken ist schwer zu schätzen. Angenommen,
bis zu 17 % der Bevölkerung würden tatsächlich krank werden (aktuelle
chinesische Daten), so würden im schlimmsten Fall 150 mal mehr schwer kranke
Patienten auf einmal auf unser Gesundheitssystem zukommen - eine Zahl, die
sämtliche Kapazitäten sprengt. Eine Zahl, der unser Gesundheitssystem nicht
standhalten kann. Und aus diesem Grund, aus diesem Ansteckungpotential heraus
können wir uns die freie Zirkulation des Coronavirus nicht leisten.
Daher sind strenge Quarantänmaßnahmen, die Rückverfolgung von Kontakten und
alle weiteren Maßnahmen zur Eindämmung der Geschwindigkeit, mit welcher sich
das Virus ausbreitet notwendig. Wir müssen erreichen, dass sich ein
beträchtlicher Prozentsatz der Bevölkerung nur langsam infiziert. Wir müssen
uns so viel Zeit wie möglich erkaufen, damit es hoffentlich 100 Jahre dauert,
bis sich schlussendlich alle infiziert haben. Wir müssen Zeit gewinnen, damit
es einen Impfstoff oder eine Behandlung gibt. Wir müssen Zeit gewinnen, um zu
sehen, ob die Infektion im Sommer verschwindet. Oder ob sie - wie damals SARS -
durch die getroffenen Eindämmungsmaßnahmen verschwindet. Wir müssen Zeit für
die Entwicklung ein antiviralen Mittels gewinnen. Wir müssen Zeit gewinnen, um
zu sehen, ob und wie die schwächsten unserer Mitmenschen überleben.
Vor allem aber müssen wir dafür sorgen, dass unser Gesundheitssystem nicht
zusammenbricht. Denn in den schweren Fällen ist diese Krankheit viel weniger
schädlich und viel weniger tödlich, wenn eine ausreichende
Gesundheitsversorgung gewährleistet ist: mit ausreichend Sauerstoff,
Hydratation, Fiebersenkung, Entzündungshemmung, Antibiotika bei Komplikationen,
künstliche Lebenserhaltung... - Die Ärzte kennen das von anderen
Lungenentzündungen. Worüber wir zugleich noch nicht viel wissen, sind
eventuelle Virus-spezifische Pathologien, Folgen und Sterblichkeit. In China
war die Sterblichkeit in der Stadt Wuhan am "Ground Zero" zwischen 8
und 30 Mal höher als in anderen Provinzen Chinas: "Auf die Frage, warum
[in] Wuhan [die Sterblichkeitsquote] so viel höher sei als auf nationaler
Ebene, antwortete der Beamte der Nationalen Gesundheitskommission Chinas, dass
dies auf mangelnde Ressourcen zurückzuführen sei" (NHCC- und WHO-Tagung,
20. Februar 2020). Der Unterschied in Bezug auf vorhandene Ressourcen kam daher,
dass sie in der chinesischen Provinz Hubei Zeit gewonnen haben und
"nur" etwa 1 von 1000 Menschen infiziert wurde. Wir wollen nun diese
Zahl weiter verbessern, indem wir alle uns auferlegten Maßnahmen anwenden. Um
somit am Ende den Beschäftigten im Gesundheitswesen zu helfen, ausreichende Ressourcen für ihre Arbeit zu
haben.
Da die Epidemie gestoppt werden muss, muss sichergestellt werden, dass das
Gesundheitspersonal in Quarantäne gestellt wird, sobald es unwissentlich einer
kranken Person ausgesetzt war. So ist es beispielsweise auch bei
Lungenentzündungen und Masern bereits gehandhabt worden. Wenn das
Gesundheitspersonal auch nur leicht infiziert wird, muss es unter Quarantäne
gestellt werden, um zu vermeiden, dass sie wiederum sehr anfällige Patienten
infizieren, deren Infektionen wiederum die personellen Ressourcen im
Gesundheitssystem schmälern.
Da die Epidemie gestoppt werden muss, ist es per Protokoll vorgegeben, dass
die Erkrankten isoliert werden, je nach Schwere und verfügbaren Ressourcen im
Krankenhaus oder zu Hause. Viele mild erkrankte Menschen werden die Infektion
isoliert zu Hause auskurieren können.
Aber mit den notwendigen Isolationsmaßnahmen für die Schwerkranken wird das
Gesundheitspersonal nicht in der Lage sein, uns angemessen zu versorgen, wenn
0,1% der Bevölkerung in wenigen Monaten ernsthaft erkranken. D.h. wenn die
übliche Zahl der hospitalisierten Menschen erreicht wird, die die Grippe im
Winter erreicht.
Nimmt man die Grippe als Maßstab, so würden wir uns in Zahlen zwischen 600
und 1.000 stationären Fällen pro Million Einwohner bewegen. Die Lombardei in
Norditalien hat am Wochenende des Internationalen Frauentages mit etwa 350
Fällen pro Million Einwohner ein Niveau erreicht, das nahe an einem
gesundheitlichen Notstand liegt. Es war daher notwendig, drastische Maßnahmen
zur Eindämmung der Personenbewegungen zu ergreifen. Zum Vergleich: in der
chinesischen Provinz Hubei haben sie ein Maximum von 1.200 Fällen/Million
erreicht. Deshalb mussten sie in wenigen Tagen 16 Krankenhäuser bauen und
Zehntausende von Gesundheitsfachkräften aus anderen Provinzen rekrutieren.
Die Epidemie muss gestoppt werden, denn die Beobachtungen aus Italien und
Spanien zeigen uns, dass sich innerhalb einer Woche oder zehn Tagen die Zahl
der Fälle mit 10 multipliziert. Überschlagen Sie, welche Zahlen wir am Ende des
Monats erreichen werden, wenn wir immer noch zögern, die empfohlenen Hygiene-
und Eindämmungsmaßnahmen anzunehmen oder zu befolgen.
Die Unsicherheit ist so groß, sie ist so neu, dass wir nicht das Risiko
eingehen können, nicht zu handeln.
Deshalb müssen wir alle von den Gesundheitsbehörden empfohlenen Maßnahmen
der Eindämmung, strikten Quarantäne und Isolierung respektieren. Denn selbst
wenn wir dies tun und mehr denn je auf die Bekämpfung einer Pandemie
vorbereitet sind, sind wir auch globaler denn je - und damit
prädispositioniert, eine Pandemie auszuweiten und zu verstärken.
Deshalb müssen wir nicht nur alle empfohlenen Maßnahmen buchstabengetreu
befolgen, sondern auch vernünftig sein und unsere Kontakte einschränken. Denn
es geht nicht nur darum, ob ich mich selbst anstecke oder nicht, sondern vor
allem darum, ob ich andere Menschen anstecken kann oder nicht. Denken Sie
daran, es ist eine Epidemie. Deshalb müssen wir die Gesundheitskongresse
absagen. Vermeiden Sie daher Reisen, bei denen wir uns und andere Menschen aus
unterschiedlichen Orten exponieren. Vermeiden Sie daher Menschenmengen, Partys
und große Versammlungen. Wenn sie die Schule Ihrer Kinder schließen, schicken
Sie sie deshalb nicht zu ihren Großeltern oder in den Park. Wenn sie die
Universität oder das Institut schließen, bleiben Sie deshalb zu Hause, anstatt
auf eine Party zu gehen. Gehen Sie, wenn Ihr Arbeitgeber das Unternehmen wegen
eines Coronavirus-Falls schließt, nicht gleich aus, um etwas zu trinken, Ihre
Mutter zu besuchen oder einzukaufen. Man schickt Sie nicht nach Hause, um Sie,
der Sie stark, jung und gesund sind, zu schützen, sondern damit Sie nicht zu
einem Virusüberträger werden, der durch die Ansteckung anderer zum Tod von
anfälligeren Personen führen könnte. Zu der Gruppe anfälligerer Patienten
könnten Sie sogar plötzlich selbst gehören, wenn Sie unerwartet an einer
Blinddarmentzündung leiden und nicht behandelt werden können, weil das
Gesundheitssystem bereits unter der Last der vielen Corona-Erkrankten
zusammengebrochen ist. Die Überlastug des Gesundheitssystems durch
Infektionsprävention zu vermeiden ist das Vernünftigste, was man tun kann.
Hoffentlich wird Covid-19 auf lange Sicht nur noch eine saisonale Krankheit
sein, wie die Grippe und die vielen Atemwegsinfektionen, an denen wir
regelmäßig leiden. Aber um dorthin zu gelangen, müssen wir durch die Welle der
Epidemie gehen. Und diese Welle muss so langsam wie möglich sein. Wir müssen
Zeit gewinnen, jede Verzögerung bei der Ausbreitung des Virus und der
Ausbreitung der Epidemie ist wichtig und hilft uns und den Mitarbeitern des
Gesundheitswesens. Denn ja, die Verzögerung ist möglich, und die Verzögerung
liegt in jedermanns Händen, selbst mit einfachen Maßnahmen (waschen Sie Ihre
besagten Hände!), aber auch mit der Akzeptanz von harten Maßnahmen.
Abgesehen von einem Erklärungsversuch ist dies ein Aufruf zu Vernunft und
Verantwortungsbewusstsein, sobald wir die Daten, die wenigen Daten, die wir
über dieses Virus kennen, haben. Die Verantwortung besteht nicht nur darin,
nicht panisch zu reagieren, sondern auch an die anderen, unsere nächsten zu
denken.
Un saludo,
Marga del Val
Geschrieben von Margarita del Val (CBMSO, CSIC-UAM), als Reaktion auf die
Nachfrage nach Informationen in einem wissenschaftlichen Forum über die Gründe
für solche außerordentlichen Eindämmungsmaßnahmen.
Übersetz von Felicitas Hengel, deutsche Medizinstudentin in Basel, die Schweiz.
Übersetz von Felicitas Hengel, deutsche Medizinstudentin in Basel, die Schweiz.